Donnerstag, 25. November 2010

Chaosprinz - Kapitel 19.

"Nach dem Essen sitzen wir alle im Wohnzimmer und schauen Timmys Digitalfotos auf DVD an.

Die anderen gehen irgendwann zu Bett. Es ist ja mittlerweile auch schon ziemlich spät und es war ein anstrengender Tag.
Nur ich sitze noch hier. Im dunklen Wohnzimmer.

Die schwarzen Zeiger der großen, weißen Wanduhr zeigen: es ist kurz vor Mitternacht.

Ich habe völlig die Zeit vergessen.

Immer wieder lasse ich die verschiedenen Bilder auf dem Fernsehschirm erscheinen.
Ich kenne sie nun so gut wie auswendig, kenne ihre Reihenfolge und weiß, was sie zeigen und doch kann ich nicht aufhören sie mir anzuschauen.

Momentan ist ein Foto von Bettina und Pa zu sehen. Sie sitzen nebeneinander auf der Picknickdecke und essen ihre Brote. Pa hat den Mund aufgerissen. Er ist gerade im Begriff in das Sandwich hineinzubeißen und Bettina sieht ihm lachend dabei zu.
Ein schönes Bild.

Das nächste Foto zeigt Maria. Sie steht neben dem Gehege der Flusspferde und verzieht angeekelt ihr Gesicht, als das große Tier einige Meter von ihr entfernt gerade seine Notdurft verrichtet.

Ich muss grinsen und schalte weiter.
Timmy hat seine Zwillingsschwester fotografiert: Emma steht vor der Scheibe des Gorillakäfigs und blickt mit offenem Mund in das Gesicht eines großen Affen. Das Tier ist keinen Meter von ihr entfernt und schaut sie ernst an. Es ist nur das Glas, das sie trennt.

Ich muss ehrlich gestehen, ich bin beeindruckt, Timmy hat ein unglaublich gutes Auge für die Gefühle und Gedanken seiner Motive. Es gelingt dem Fünfjährigen elementaren Emotionen und Regungen mit einem einzigen „Klick“ einzufangen.

Die Bilder sind gut, sie sind wirklich sehr gut…

Nun sehe ich mich selbst, wie ich mit Emma an der Hand durch die angenehmen Schatten der hohen Bäume spaziere. Wir schauen uns dabei an. Sie erzählt mir was und deutet mit der Hand geradeaus.
Wir mögen uns. Das sieht man ganz deutlich. Wir wirken so vertraut, so entspannt.

Ich seufze, schaue mir das Foto noch einige Minuten länger an und wähle dann das Nächste aus.

Alex und ich auf dieser Parkbank. Er hält noch den Roman von Dostojewski in der Hand. Wir sitzen sehr eng beieinander, sehen uns an.

Ein kribbeliges Gefühl in meinen Fingerspitzen, ich bekomme eine Gänsehaut.
Warm klopft es in meiner Brust.
Ich kann den Blick nicht von diesem Bild nehmen.

Es ist so offensichtlich, so wahnsinnig offensichtlich!
Doch den anderen schien es vorhin nicht aufgefallen zu sein. Ich hatte erwartet, sie würden aufspringen, mit den Fingern auf uns zeigen und empört „Skandal“ rufen. Doch nichts dergleichen geschah. Haben sie nicht richtig hingesehen?

„Ich wusste doch, dass du noch wach bist, Bambi!“

Erschrocken fahre ich zusammen. Schnell drücke ich auf „Weiter“, lasse ein anderes Foto auf dem Fernsehbildschirm erscheinen.
Himmel Herr Gott, bitte lass ihn nicht gesehen haben, was ich mir da gerade so intensiv angeschaut habe, bitte, bitte, bitte.

Natürlich ist mein Hoffen ziemlich sinnlos. Alex stand bestimmt schon eine ganze Weile hinter dem großen Sofa und hat mich beobachtet...

Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Müde lässt er sich neben mich fallen. Sein blondes Haar ist leicht zerzaust, was ihm ganz wunderbar steht. Scheinbar ist er schon im Bett gewesen.

„Warum bist du noch wach?“, fragt er mit schläfrig rauer Stimme und ich kann schon wieder die kleinen Härchen in meinem Nacken und auf meinem Unterarm spüren, die sich bei diesem Klang kribbelig aufstellen.
„Ich könnte dich dasselbe fragen“, nuschele ich leise.
„Hatte Durst“, murmelt er recht einsilbig.

Ich lächle ihn kurz an, schaue dann wieder auf den Bildschirm.

Bettina, Maria und Emma stehen zu dritt, Arm in Arm vor dem Giraffengehege. Sie strahlen in die Kamera. Ihre blonden Haare glänzen im Sonnenlicht, die grauen Augen blitzen freundlich.

„Sag schon, Bambi, warum bist du noch wach?“ Alex’ Frage holt mich wieder in die Realität zurück.
„Ich wollte mir nur noch einmal die Bilder anschauen. In Ruhe und so…“

„Er hat dir gefallen, der Tag heute, oder?“ Alex sieht mich an.
„Ja!“
„Warum?“
„Weil…“, ich überlege zögernd „weil wir heute eine richtige Familie waren!“

Alex hat den Kopf immer noch in meine Richtung gedreht und mustert mein Profil. Ich kann seinen Blick auf meiner Wange, der Nase, den Haaren, den Augen und meinen Lippen spüren.
Nervös atme ich ein und wieder aus.

Stetig ansteigende Wärme breitet sich in mir aus.

„Familie ist dir wichtig, oder?“, fragt er schließlich rau.
„Ja, dir doch auch.“ Nun wage ich es doch und schaue ihm in die Augen.
„Hm … ja! Aber ich finde das alles nicht so einfach…“
„Ja, ich weiß, was du meinst, aber trotzdem gibt es kaum etwas Schöneres als die Familie! Als sich mein Kumpel Mario einmal seinen Fuß gebrochen hatte und eine Woche Krankenhaus im liegen musste, habe ich ihn öfters besucht.
In der Eingangshalle war ein Kiosk mit Café und einigen Tischen, Stühlen und Bänken. An einem der Tag versammelte sich in der Eingangshalle eine türkische Familie. Großeltern, Väter und Mütter, Kinder, Jugendliche, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen, alle waren sie da. Sie saßen den ganzen Tag gemeinsam vor diesem Kiosk, haben miteinander gesprochen und sich in den Arm genommen. Ich nehme an, eines der Familienmitglieder lag im Sterben … wie dem auch sei, irgendwie hat mich das wirklich beeindruckt und berührt. Diese Selbstverständlichkeit, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Liebe waren so deutlich sichtbar, eben genauso, wie man sich eine richtige Familie vorstellt.“

Alex sieht mich schweigend an.

„Ich meine, ich hatte eine tolle Kindheit. Ma und unsere Freunde haben mir immer viel Geborgenheit und Wärme gegeben, es war sehr schön! Ich will mich nicht beschweren. Aber es war einfach doch etwas anderes … sehr individuell, vielleicht auch ein bisschen extrem … anders halt! Wir hatten uns lieb und passten auf einander auf, doch ... hm, es war eben ein anderes Gefühl von Zusammengehörigkeit. Vielleicht haben wir auch nur zusammengehört, weil wir sonst nirgends rein gepasst haben...“
Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat. Würde mich schwer wundern, denn ich verstehe mich ja selbst kaum. Es will mir nicht gelingen für diese Gefühle in meinem Inneren die richtigen Worte zu finden.

„Was willst du eigentlich?“ Alex lehnt in den weichen Kissen, das blonde Haar glänzt im Schein des Fernsehers, der einzigen Lichtquelle im ansonsten stockdunklen Raum.

„Wie meinst du das?“ Ich verstehe seine Frage nicht ganz. Müde lasse auch ich mich nach hinten sinken, ein breites Kissen im Rücken und drehe den Kopf zu ihm.

Wir sitzen eng neben einander, unsere Schultern berühren sich fast. Mein Körper fühlt sich warm und wundervoll aufgeregt an.

„Was wünschst du dir, wenn du von Familie sprichst?“, konkretisiert er seine Frage.
„Hm, einen Ort an dem man absolut Zuhause ist. Ich wünsche mir einfach von diesen Menschen bedingungslos geliebt zu werden, ein fester Teil ihrer Gemeinschaft zu sein! Ich will, dass falls ich einmal in einem Krankenhaus liegen sollte, meine Familie zahlreich erscheint und stundenlang vor dem Kiosk wartet … das ist ein extrem blödes Beispiel, sorry!“ Ich grinse entschuldigend.

„Hm, ich fürchte, ich muss deine Träume zerstören. Bedingungslose Liebe? Und was ist mit Verantwortung, Erwartungen, einengenden Traditionen und fester Rollenverteilung? Auch alles Elemente des Familienlebens, die du scheinbar vergessen hast.“ Seine Stimme klingt ruhig.
„Nein, aber…“
„Nichts aber! Ich brauche keine zwanzig Onkeln und Tanten, Großeltern, Cousins und Cousinen die an meinem Krankenbett wachen. Ich kannte mal einen alten Mann, er hat früher bei uns in der Straße gewohnt. Ein Einzelgänger, verbittert und einsam. Er hatte keine Kinder, lebte allein und mied jeden Kontakt zu den Nachbarn. Als er starb und beerdigt wurde hat das niemanden interessiert, niemand kam zu seiner Beerdigung, niemand bis auf einen siebenjährigen Jungen. Das war sein einziger Freund. Er hat ihn wirklich gemocht! Der Junge war jeden Tag im Sommer zu ihm gekommen und saß dann schweigend neben ihm auf der Terrasse hinter seinem Haus.
Behalte du deine Großfamilie, ich bevorzuge lieber einen einzigen wahren Freund!“

Wir haben unsere Gesichter einander zugewandt. Ich weiß nicht was ich sagen soll!

Grau schimmern mich seine Augen an, ich kann so tief hineinschauen, dass ich fürchte mich in ihnen rettungslos zu verlieren.

Es ist das zweite Mal seit wir uns kennen, dass er mich so offen, schutzlos und verletzlich ansieht … das erste Mal hat er dabei mit mir geschlafen!

„Aber ich dachte … ich habe gedacht … Familie und Freunde sind dir doch so wichtig!“, stammele ich leise.
„Sie sind mir wichtig! Keine Frage, ich habe nur gesagt, dass ich das alles weniger unkompliziert sehe als du, Bambi. Ich finde es einfach schwieriger! Und was Freunde angeht: Ich habe eine Menge gute Kumpels, viele Klassenkameraden mit denen ich klar komme und ich kenne auch sonst noch einige Leute, die nett sind und mit denen ich gut feiern oder abhängen kann, aber das sind noch lange keine Freunde. Ich habe nur einen einzigen Freund: Tom!“

Ich erwidere seinen ernsten Blick.
Seine Worte haben mich aufgewühlt, völlig überrascht. Das Bedürfnis ihn in den Arm zu nehmen ist geradezu überwältigend.

„Nein, du hast zwei Freunde!“, flüstere ich leise.

Er stutzt, dann sehe ich wie er versteht, seine Miene sich aufhellt, er beginnt zu lächeln.
Mit roten Wangen drehe ich den Kopf von ihm weg, schaue schnell nach vorne.
Er sagt immer noch nichts und ich knete nervös meine Finger.
Mein Herz klopft laut.

Ich fange an mir blöd vorzukommen!

„Es sei denn, du magst nicht … also, du magst mich nicht…“, nuschele ich schnell.

Mit einem Ruck beugt er sich zu mir rüber. Seine Hand hält mein Kinn fest, seine Lippen drücken sich sachte auf meine Wange.
Sie verweilen dort einige Sekunden lang.

Heiß glüht die Stelle, die sein Mund berührt. Die Hitze breitet sich in meinem ganzen Gesicht aus und sie will auch nicht verschwinden, als er sich von mir löst und aufsteht.

„Ich bin müde! Wir sehen uns morgen. Gute Nacht!“, flüstert er leise und wirft mir noch schnell einen undefinierbaren Blick zu.

Ich will nicht, dass er geht aber ich weiß nicht wie ich ihn zum Bleiben überreden soll.
Hektisch setzte ich mich auf, sehe ihm nach.

„Alex?“
Er dreht sich zu mir um.
„Der Junge, der allein zu der Beerdigung des alten Mannes ging … warst das du?“

Er lächelt. „Nacht, Bambi!“ Dann ist er im Dunkeln verschwunden."

Ungekürzt.
Weil die besten Stellen es nicht verdient haben, gekürzt zu werden.
Weil DIESE Geschichte die Beste ist, die ich JE gelesen habe♥

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